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Reimar Gilsenbach – Kämpfer gegen Umweltzerstörung und Vergessen

Vor 100 Jahren wurde der Umweltschützer und Menschenrechtsaktivist Reimar Gilsenbach geboren. Ein Bündnis in Berlin-Marzahn erinnert nun an den Vordenker der Umweltbewegung in der DDR.

1975 zog Reimar Gilsenbach in das nordbrandenburgische Dorf Brodowin
1975 zog Reimar Gilsenbach in das nordbrandenburgische Dorf BrodowinImago / imagebroker

Es gibt Begegnungen, die bleiben ein Leben lang im Kopf und im Herzen. An eine solche erinnert sich Jörn Mothes gern. Der Theologe, der heute im Schweriner Umweltministerium arbeitet, hatte Mitte der 80er-Jahre an den DDR-weiten Radsternfahrten teilgenommen. Das waren mehr­tägige Treffen von hunderten kirchlichen Umweltaktivisten, die sich zum Abschluss ihrer Touren mit Zelten auf der Insel Hermannswerder in Potsdam trafen. Auf dem kirchlichen Gelände wurde über die gefährdete Natur diskutiert, es gab Podien, Ausstellungen und Gottesdienste.

Da tauchte eines Tages einer auf, der schon eine Generation älter war als die jungen Umweltschützer, sah aber „genauso aus wie die Umweltfreaks“, erinnert sich Mothes. „Er trug lange Haare und Bart, doch die waren beide weiß.“ Eine Generation lag zwischen ihm und den jungen Menschen hier. Er hieß Reimar Gilsenbach und war für viele der jungen Leute eine Institution.

Er sei ein wenig herumgelaufen „wie ein Exot“, so Mothes. Er habe zwar von ihm gewusst, sei ihm aber bis dahin nie persönlich begegnet. Das sollte sich schnell ändern. Denn Gilsenbach hatte kein eigenes Zelt dabei. Also bot ihm Mothes an, doch mit ihm in seinem kleinen „Ossi-Zelt“ aus Nylon zu übernachten. Dort hatten sie sich Geschichten über das Leben erzählt, und schnell ist eine Freundschaft daraus geworden.

Kindheit von Reimar Gilsenbach zwischen Anarchisten und Natur

Das war nicht verwunderlich. Gilsenbach war aufgeschlossen, freundlich und Menschen zugewandt. Aber eben auch ein Querkopf. „Wer im Gleichschritt marschiert, geht in die falsche Richtung“, ist nicht nur der Titel eines seiner vielen Bücher. Es war auch so etwas wie sein Lebens­motto, das der Schriftsteller, Umweltaktivist und Menschenrechtler konsequent und glaubwürdig wie nur wenige vorgelebt hat. Reimar Gilsenbach starb im Jahr 2001. Am 16. September wäre er nun 100 Jahre alt geworden. Des­wegen will ein Bündnis in Berlin-Marzahn am 20. September mit einem festlichen Kolloquium an sein ungewöhnliches Leben und Wirken erinnern.

Aufgewachsen ist Gilsenbach in einer Anarchisten-Siedlung bei Hünxe am Niederrhein und in der Sächsischen Schweiz. 1943 wurde in die Wehrmacht eingezogen, da war er 18 Jahre alt. Ein Jahr später lief er zur Roten Armee über. Seine Kriegszeit endete jedoch in sowje­tischer Kriegsgefangenschaft: Er hatte sich den autoritären Strukturen des von KPD-Kadern gelenkten Nationalkomitees „Freies Deutschland“ widersetzt.

Mit seiner Rückkehr nach Deutschland 1947 begann Gilsenbachs Einsatz für Umwelt und Menschenrechte. Er war einer der aufrechten Kommunisten, mit denen die DDR-Führung so ihre Mühe hatte. Das sollte er auch bald zu spüren bekommen. Nach seinem Journalismus-Studium in Dresden begann er 1949 beim SED-Blatt „Sächsische Zeitung“ als Redakteur, wurde allerdings schon kurz darauf aus politischen Gründen ­fristlos ­gekündigt.

Reimar Gilsenbachs Werke prägten frühe Umweltdebatten in der DDR

1951 ging er zu der vom DDR-Kulturbund verlegten Zeitschrift „Natur und Heimat“. Nach zehn Jahren stieg er dort wieder aus und wurde freier Schriftsteller. Sein besonderes Anliegen dabei war, denjenigen eine Stimme zu geben, die selbst oft überhört werden. Das waren für ihn sowohl unterdrückte Minderheiten als auch die Natur. Es dauerte nicht lange und die ersten Werke erschienen, in denen Gilsenbach grundlegende Umweltprobleme zur Sprache brachte. „Die Erde dürstet“ (1961), „Herren über die Wüste. Geschichten über das Verhältnis des Menschen zur ­Natur“ (1963) oder „Peter entdeckt die Welt. Ein Bilderatlas für Kinder“ (1967) sind einige von ihnen.

1975 zog er in das nordbrandenburgische Dorf Brodowin im späteren Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin in Brandenburg. Dort gestaltete er mit seiner späteren Ehefrau Hannelore Kurth Liederabende und las eigene Texte. 1981 gab er den Anstoß zu den „Brodowiner Gesprächen“, die sich schnell zu einem Forum für Umweltengagierte und Oppositionelle entwickelten. Zu Gilsenbachs Freundeskreis zählten viele bekannte und weniger bekannte Zeitgenossen – darunter auch Robert Havemann und Wolf Biermann, dessen Tagebücher er in seinem Garten vor dem Zugriff der Stasi versteckt hatte. In den 90er Jahren entwickelte sich Brodowin auf seine Anregung hin zu einem „Ökodorf“.

Kriegerdenkmal im "Ökodorf" Brodowin in Brandenburg
Kriegerdenkmal im "Ökodorf" Brodowin in BrandenburgImago / Rolf Zöllner

„Er war ein herzlicher, zurückhaltender, lieber Mensch“, erinnert sich Michael Succow. Der Greifswalder Agrarwissenschaftler und Biologe war als stellvertretender Umweltminister in der Modrow-Regierung einer der ganz entscheidenden Motoren eines einzigartigen Erfolges der Friedlichen Revolution: das in letzter Minute vor der Wiedervereinigung vom DDR-­Ministerrat beschlossene Nationalparkprogramm, mit dem bis heute kostbare Großschutzgebiete unter Schutz gestellt wurden. Gilsenbach hatte für diese Idee schon im ersten Jahrzehnt der DDR gestritten. „Er hat mich geprägt“, sagt Succow, vielfach ausgezeichneter Umweltschützer und Träger des Alternativen Nobelpreises.

Frühe Naturerkundungen prägten Reimar Gilsenbachs Denken

Zu den gemeinsamen Zeiten gehört eine unvergessliche Silvesternacht auf dem Brodowiner Stein mit dem weiten Blick in die Landschaft, den „Karpaten“. Was später ans Licht kam: Einer der Gäste hatte das Fest genutzt, um die Voraus­setzungen für eine Abhöranlage der Stasi in Gilsenbachs Keller zu schaffen. Es sollte nicht die einzige ­Dauer-überwachung des bekennenden Kommunisten bleiben.

Doch ihre gemeinsame Geschichte habe schon viele Jahre früher begonnen, in seiner Zeit als Oberschüler, berichtet Succow. Damals sei er mit ihm durch die Wälder gesteift und habe unter seiner Anleitung kartografiert.

Freund und Wegbegleiter Gilsenbachs: Der Umweltschützer und Träger des Alternativen Nobelpreises, Michael Succow
Freund und Wegbegleiter Gilsenbachs: Der Umweltschützer und Träger des Alternativen Nobelpreises, Michael SuccowImago / Frank Ossenbrink

„Bei Reimar war das Leben Austausch mit anderen“, erinnert er sich. Als SED-Genosse hat Gilsenbach von Anfang an im DDR-Kulturbund gearbeitet. „Das war keine Opposition. Wir wollten, dass die Welt erhalten bleibt“, sagt er heute. Das klare „Nein!“ zur Politik der DDR-Führung beim Raubbau an Ressourcen, den vergifteten Flüssen und Chemiekombinaten gehörte dazu. Er hat für diesen Widerstand immer wieder bitter bezahlt. Dabei ging es nicht nur um Natur und Umwelt.

Gedenkstein für Einsatz von Reimar Gilsenbach

„Eines seiner großen Themen war unser Vergessen der Ver­folgung und Ermordung der Volksgruppe der Sinti und Roma während des Nazi-Regimes“, sagt der Theologe Wolfram Hülsemann. Mit „großer Wachheit, mit Empathie und Solidarität“ habe er sich den wenigen in der DDR ­verbliebenen Sinti zugewandt, sie begleitet und geschützt. Gegen die offizielle Ignoranz der Geschichte ihrer Verfolgung nötigte er den Partei-Apparat mithilfe des evangelischen Pfarrers Bruno Schottstädt die Zustimmung ab, auf dem Gelände des ehemaligen NS-Zwangslagers in Berlin-Marzahn einen Gedenkstein für die ermordeten Roma und Sinti zu errichten.

Hülsemann, der heute in Berlin-Marzahn lebt, ist ein wesentlicher Initiator des festlichen Kolloquiums, zu dem das „Bündnis für Demokratie und Toleranz am Ort der Vielfalt“ in Marzahn-Hellersdorf ein­geladen hat. In seiner Zeit als Ostberliner Stadtjugendpfarrer, lange vor der Friedlichen Revolution ­hatte er erlebt, wie Gilsenbach die kirchliche Umwelt und Friedens­bewegung mitgeprägt hat.

Als bekennender Atheist hatte Gilsenbach in Gleichgesinnten ­Verbündete gefunden. Wie Jörn Mothes, der heute im Schweriner Umweltministerium für eines der Lebensthemen Gilsenbachs streitet: den Erhalt des Trinkwassers für kommende Generationen. Neben Michael Succow wird auch er Gast auf dem Kolloquium sein.